SoberGuide Andreas – „Anderen zu helfen, baut auch mich selbst auf“

Andreas ist seit drei Jahren SoberGuide und hilft ehrenamtlich Menschen mit Suchtproblemen. Früher war er selbst abhängig von Kokain und Speed, dealte bis er verhaftet wurde – und rutschte nach dem Cut mit den harten Drogen in die Alkoholabhängigkeit. „Im Gespräch mit Hilfesuchenden denke ich immer: Wenn ich das geschafft habe, dann schafft ihr das auch!“ sagt der 57-Jährige, der in Berlin Tempelhof lebt. Wie er seine Arbeit als SoberGuide organisiert und warum er leidenschaftlich gern seine private Zeit investiert, erzählt er hier.

Die Sucht, sie bleibt immer präsent, weiß Andreas – auch nach vielen Jahren und sogar nach Jahrzehnten. Bei ihm sind es schon 19 Jahre und 3 Monate, die er abstinent lebt. „Man kann die Sucht anhalten, aber man muss auch stetig weiter gegensteuern, sollte sich nie in Sicherheit wiegen“, sagt er. Die Krankheit, die so lange sein Leben bestimmt hat, heute hat er sie im Griff und akzeptiert. Die Abhängigkeit und der Wunsch sich zu betäuben, bleiben aber ein Teil seiner Geschichte, die mit einem großen Mangel begann.

Andreas verliert seine Mutter, als er neun Jahre alt ist. Sein Vater tut sein Bestes, doch dem Jungen fehlen Zuwendung, Wärme, Liebe. „Ich fühlte mich einsam und hatte große Verlustängste, die ich dann schon früh mit Haschisch betäubt habe. Ich habe da schnell gelernt: Super, so kann ich die richtige Welt ausknipsen.“ Bald reichen Joints nicht mehr. Es folgen PCP, auch Angel Dust genannt, LSD, Kokain und Speed. „Ich habe gemerkt, wenn ich drauf bin, sind meine Probleme weg und das war alles, was ich wollte“, erinnert sich der heutige SoberGuide.  

Dass die Gleichung nicht aufgeht, merkt Andreas erst viel später. Zu gut funktioniert er für das Außen. Er macht eine Lehre als Maschinenschlosser, ist zuverlässig und handwerklich begabt. Das hat er von seinem Vater, der ihm beruflich ein Vorbild ist. Doch nach Feierabend streckt sich die Wirklichkeit zunehmend bedrohlich vor ihm aus. Die Drogen sind sein Fluchtweg und um sich diese auch weiterhin leisten zu können, beginnt Andreas zu dealen. Bis er nach mehreren Jahren erwischt und verhaftet wird.

Ein traumatisches Erlebnis, für das der mittlerweile 57-Jährige heute sehr dankbar ist.

„Ich hatte plötzlich so einen Horror vor dem Knast, dass ich es geschafft habe, von heute auf morgen mit den harten Drogen aufzuhören.“

Doch gleichzeitig wird klar: So einfach komplett clean bleiben, das steht auf einem anderen Blatt. Die Leere, die inneren Kämpfe, die Lebensthemen – alle noch da und kein bisschen kleiner. „Ohne Drogen ging plötzlich gar nichts mehr. So bin ich direkt in die Alkoholsucht gerutscht,“ sagt Andreas.

Über 10 Jahre lang trinkt er täglich Dosenbier und eine Flasche Jägermeister. Dosenbier, nicht weil es schmeckt, sondern weil er es heimlich die Treppe runterbringen und entsorgen kann, ohne dass der Beutel verräterisch klirrt. Wieder funktioniert er tagsüber unter den Kollegen, die er schätzt und von denen er geschätzt wird. „Auf Arbeit habe ich es nicht gebraucht, da war ich nicht allein, da ging es mir gut. Erst am Feierabend hat es mich eingeholt. Ich hatte irgendwann keine Freunde mehr, mich kaum unter Menschen getraut. Also habe ich mich müde getrunken und am nächsten Tag bin ich zur Arbeit. Ich hatte zwei Leben: eins in der Firma, eins zu Hause.“

Als er eines Abends sogar betrunken ins Auto steigt und in Schlangenlinien nach Hause eiert, wird er von der Polizei rausgezogen. Er verliert seinen Führerschein. „Das war das schlimmste für mich. Ich hatte auch einen Motorradführerschein. Ich wollte unbedingt meine Freiheit und mein geliebtes Hobby zurückhaben“, erinnert sich Andreas. Die schnellste Möglichkeit das hinzubekommen ist, mit dem Alkohol Schluss zu machen. Das ist ihm klar.

SoberGuide Andreas und Projektmitarbeiter Marco

Er meldet sich zu einer Verkehrstherapie an. „Ich hatte das Glück, einen ganz tollen Therapeuten zu finden. Dadurch habe ich so viel über mich gelernt! Ich bin auf meine Defizite gestoßen und meinen Gefühlen begegnet. Es war ein Wendepunkt.“ Nach der Konfrontation mit Verlusten, dem tief verbuddelten Schmerz, geht es bergauf. Andreas macht auch nach der MPU-Vorbereitung eine Therapie, bleibt dran und trocken. „Ich bin so froh, dass ich durch die Festnahme und später durch den Führerscheinverlust, so richtig auf den Pott gesetzt wurde.“

Andreas ist nun motiviert, den Alkohol und seine Ausflüchte komplett hinter sich zu lassen. Heute weiß der SoberGuide aus eigener Erfahrung: „Man kann Suchtkranken nicht helfen, wenn sie es nicht von sich aus wollen.“ Doch in ein echtes Wollen zu kommen, sei für die meisten schwierig, die Schmerzgrenze des Erträglichen werde immer weiter verschoben. „Ich denke, jeder, der wirklich aufhören will, muss an seinen persönlichen Tiefpunkt kommen – erst dann gelingt der Absprung. Ich bin froh, dass ich nicht alles verlieren musste, bevor ich aufgewacht bin“, so Andreas.

Über seinen Vater erfährt er von den Guttemplern und geht nun regelmäßig zu einer Selbsthilfegruppe. Dort lernt er auch einen guten Kumpel kennen, mit dem er am liebsten mit dem Motorrad unterwegs ist. „Mir hat die Gemeinschaft unheimlich geholfen, meinen neuen, abstinenten Alltag zu leben. Vorher habe ich mich immer als Außenseiter gefühlt. Habe immer gedacht, ich gehöre nirgendwo dazu. Dann habe ich gemerkt, dass es auch anderen so geht. Das war eine schöne Erfahrung.“

Dazu sei es für Alkoholiker oft schwierig, freie Zeit ohne Alkohol zu verbringen. Bei jeder Familienzusammenkunft, jedem Barbecue der Nachbarschaft und zu jedem Team-Event gibt es Bier, Wein, Sekt und Schnaps. „Die Freizeit alkoholfrei zu gestalten, ist für die Meisten, die aufhören wollen, schwer.“

Deshalb fährt Andreas, der auch schon einmal die Selbsthilfegruppe unter dem Dach der Guttempler geleitet hat, manchmal mit allen übers Wochenende weg. Zuletzt besuchten sie Husum für ihre gemeinsamen Projekttage, machten eine Städterundfahrt und gingen in eine Ausstellung. „Es entsteht ein tolles Gemeinschaftsgefühl. Wir sind füreinander da“, so Andreas.

Um sich professionell für Suchtkranke einsetzen zu können, macht Andreas 2005 über die Guttempler eine Ausbildung zum ehrenamtlichen Suchthelfer. Das dauert 18 Monate, an denen er an insgesamt sechs Wochenend-Seminaren mit einer Abschlussprüfung teilnahm. Doch den Einsatz bringt der Abteilungsleiter, der einen ganzen Maschinenpark für Hightech-Kunststoffkleinteile beaufsichtigt und so auch beruflich jede Menge Verantwortung trägt, sehr gern: „Anderen zu helfen, baut auch mich selbst auf.“

Anfang 2019 erfährt er von der neuen Initiative „SoberGuides“, die ehemals Suchtkrankranke anspricht. Sie sollen mit ihrer eigenen Geschichte als Lotsen aus der Abhängigkeit für aktuell Betroffene fungieren – am Telefon und zu definierten Sprechzeiten, authentisch und unbürokratisch. Andreas ist sofort von der Idee begeistert. „Ich dachte: toll, niedrigschwelliger geht es nicht! Dieses Konzept kann viele Menschen erreichen.“

Aus seiner Arbeit als Leiter einer Selbsthilfegruppe kennt er die Hemmungen und Ängste der Hilfesuchenden. „Ich habe viele Jahre lang Gespräche von Angesicht zu Angesicht geführt und da waren die Menschen oft reserviert. Wir saßen uns gegenüber und das Gespräch war schwierig. Am Telefon ist das nicht so, es fühlt sich anonymer, geschützter an.

Meine Erfahrung ist, dass die Hilfesuchenden auf diese Weise besser öffnen können. – Und dadurch kann ich natürlich viel besser helfen“, erklärt Andreas.

Als SoberGuide, der er seit Juni 2020 ist, spricht er jede Woche mit Suchtkranken. Mindesten zweieinhalb Stunden pro Woche hält er dafür frei. Auf soberguides.de hat er ein Profil, das er mit dem passenden Zitat „Alkoholsucht ist nicht der Durst der Kehle, sondern der Durst der Seele“ des Theologen Friedrich von Bodelschwingh versehen hat. Dazu gibt er an, mit welchen Suchtmitteln er Erfahrung hat und wann er zu erreichen ist. „Ich kann selbst steuern, wieviel Zeit ich dem Projekt widme, das gefällt mir sehr gut. Ich kann zum Beispiel Sprechzeiten rausnehmen, wenn ich im Urlaub bin. Aber diejenigen, die bei mir aktuell in der Betreuung sind, erreichen mich immer.“ Aktuell sind das bei Andreas Drei. Über die Jahre hat er mittlerweile viele Menschen begleitet. Immer öfter sind auch Angehörigen darunter, die verzweifelt sind und mehr über die Drogen erfahren wollen. Rund ein Viertel sind Eltern oder Partner, Freunde und Verwandte, die sich Sorgen machen und die Krankheit und damit einhergehende Verhaltensweisen verstehen wollen. „Später melden sich dann manchmal auch die Betroffenen selbst“, so Andreas.

Ziel des Angebots der Sober Guides ist es, Menschen Wege aus der Sucht aufzuzeigen. „Viele merken, sie haben ein Suchtproblem, haben aber keine Vorstellungen, wie sie da rauskommen“, sagt Andreas. Meist braucht es zwei oder drei Gespräche, dann ist klar, ob die Hilfesuchenden wirklich die nötigen Schritte unternehmen wollen. Andreas hilft dann bei der Suche nach einem ambulanten Therapieplatz oder stationären Einrichtungen, vermittelt Selbsthilfegruppen und Unterstützung für das Umfeld.

„Wir haben ein tolles Netzwerk mit viel Erfahrung. Ich stelle für jeden individuell etwas zusammen.“ Wenn die Betroffenen aus Berlin kommen, trifft sich Andreas auch persönlich – zum Schlittschuhlaufen, Motorradfahren oder zum Spaziergang mit Fotokamera. Andreas ist nämlich auch ein begeisterter Fotograf. Nicht zuletzt seine eigene Selbsthilfegruppe gewinnt so immer wieder neue Mitglieder.

Dass es nach dem ersten Gespräch nicht weitergeht, ist selten. Andreas ist ein guter Zuhörer, locker, und strotzt vor berlinerischer Herzlichkeit. Wer mit ihm spricht, spürt sofort, wie wichtig ihm sein Engagement ist und wie sehr er an seine Schützlinge glaubt, ihre Sorgen und Nöte zu seinen eigenen macht: „Ich überrede niemanden und weiß auch nichts besser. Ich denke immer: Wenn ich das geschafft habe, dann schafft ihr das auch! Und das sage und vermittle ich auch!“ Weitere Gespräche oder Aktivitäten nach einem Anruf sind kein Muss. Alles ist unverbindlich und geht auch anonym. „Wir wollen keine Hürden und einfach informieren, Möglichkeiten aufzeigen und in den Dialog kommen“, so Andreas.

Gleichzeitig ist es Andreas wichtig zu betonen, dass die SoberGuides sich von einem Nottelefon unterscheiden. Dafür haben die Guttempler andere Angebote. Die SoberGuides hingegen wollen eine längerfristige Begleitung anbieten, Menschen in die richtige Spur bringen und einen Partner auf Augenhöhe sein, der genau weiß, was sie durchmachen.

Dass er als SoberGuide noch mehr Menschen, die gegen eine Sucht kämpfen, erreichen kann, macht Andreas glücklich und seine beiden Söhne stolz: „Es fühlt sich gut an, einen Unterschied machen zu dürfen.“ Selbst beim Sport hat er eine Trinkflasche dabei, die er mit einem SoberGuide Aufkleber versehen hat. „Ich wurde im Fitnessstudio schon darauf angesprochen und habe so einen willigen Aussteiger gefunden“, erzählt Andreas. Auch sein Chef weiß Bescheid und wenn er zu Kundenterminen fährt, nimmt er Flyer der SoberGuides mit. Andreas möchte, dass das Angebot möglichst vielen Menschen bekannt wird: „Der Bedarf ist so groß und durch die Website soberguides.de kann uns von überall auf der Welt finden und ansprechen.“